XVIII – Achtzehnter Kuss

11. März 2015

Oh mein Gott! Was war denn das???
Also jetzt hast du dich aber selbst übertroffen. Ich bin ja der Meinung ich hab Phantasie, aber auf sowas wäre ich nicht gekommen. Fangen wir von vorne an:

Nachdem ich mich auf der letzten Fahrt erkältet hatte und im Studio mit bzw. gegen die verschnupfte Nase zu kämpfen hatte, hab ich mich trotzdem entschieden mit dem Bus zu fahren. Angeniest werden kann man schließlich überall zur Zeit.

Vor der Abfahrt in Tutzing dann die Frage: Geh ich auf Nummer sicher und nehme die S-Bahn, mit der ich ne Stunde vor Abfahrt am Bus bin oder die nächste, mit der ich dann erst 15 min vorher ankomme? Ne Stunde in der Kälte an der Hackerbrücke geht gar nicht, also vertraue ich darauf, dass du mich nicht ärgerst und so spät abends die S-Bahn keine Verspätung haben wird.
Klappt auch alles 😉

Aber dann ist der Bus bis auf den allerletzten Platz ausgebucht. Alles voll.
Na gut, dann im Sitzen schlafen. Ich such mir wenigstens n nettes Mädel als Sitznachbarin aus.

00:15 Uhr
Ich bin relativ schnell eingeschlafen, doch dann werd ich wieder wach, wir stehen. Es ist viertel nach 12. Ich schaue auf der KartenApp nach, wo wir sind. Rasthof Fürholzen. Was machen wir denn hier?

Dann kommt auch schon die Durchsage vom Busfahrer: Poliziekontrolle, wir sollen bitte unsere Ausweise bereit halten.
Eine junge Polizistin kommt die Treppen hoch, kontrolliert die Ausweise und dann behält sie die von den 4 Jungs in den Reihen vor mir. Als der eine fragt, ob er seinen wiederbekommt, antwortet sie, ja den bekommt er gleich wieder und geht weiter, mit den Ausweisen. Hinter mir sammelt sie noch ein paar Ausweise ein, dann verschwindet sie wieder.
Wir warten … und warten … und warten. Nichts passiert!
Es darf auch keiner den Bus verlassen.
Die Jungs vor mir waren alle so Anfang-Mitte 20. Ob die jemanden suchen? Junge Terroristen?
Mittlerweile sind über 30 Minuten vergangen. Ich kann mir nicht erklären, was da so lange dauert. Der Typ neben mir (Ende 50 und wie ich seinem Telefonat am Beginn der Reise entnehmen konnte ist das seine erste Reise mit nem Fernbus) auf der anderen Seite des Gangs, regt sich auf, zu recht.
Der Typ, der seinen Ausweis abgeben musste, geht nach unten. Er will nachfragen. Als er wiederkommt meint er scherzhaft: „Bin ein kleiner Massenmörder, die müssen meine Akte ausführlich studieren.“ Es wird noch ein bisschen rumgefrozzelt, aber es bleibt uns nichts weiter übrig als zu warten.

Aus Langeweile poste ich bei Facebook. Ein Freund von mir antwortet, dass ihm das mittlerweile jedes Mal auf der Strecke passiert. Allerdings ging das bei ihm immer schneller.

01:10 Uhr
Kurz nach 1:00 Uhr dann ne Durchsage von der Polizistin. Alle, die sie nennt, sollen bitte vorkommen und ihre Ausweise abholen. Und dann fängt sie an langsam ca. 30 Namen zu verlesen. Jedesmal wartet sie, bis derjenige bei ihr ist. Allerdings sind die meisten der Namen weiblich. Hatte ich ja Glück, dass sie mich verschont hat.

Der Typ neben mir scheint was mit Recht und Ordnung zu tun zu haben. Der regt sich nämlich jetzt, wieder mit recht, darüber auf, dass das gegen den Datenschutz verstößt. Dann beendet sie die Durchsage.

01:20 Uhr
Ausser unserem „Massenmörder“ haben alle vor mir ihren Ausweis wieder abgeholt. Seltsam!
Dann kommt ein anderer Polizist die Treppe hoch und bittet ihn mit ihm zu kommen. Und er soll sein gesamtes Handgepäck mitnehmen. Hoppala! Seine Freundin wird ein wenig unruhig und besorgt. Sie kann sich nicht vorstellen, was er getan haben soll.

Wieder warten. Das ganze dauert jetzt schon weit über eine Stunde.
Zum Glück ist mein erster Termin um 10:45 Uhr. Das schaff ich auch mit der Verspätung noch bequem.
So langsam nervt das Gewarte sehr! Und man kann nichts machen.

Dann endlich nach 20 Minuten kommt auch der Typ wieder. Er wär „einschlägig bekannt“ und die hätten ihn richtig durchgefiltzt und befragt. Er wär aber nicht der einzige gewesen. Die hatten 5 Leute in die Raststätte gebeten, um sie zu prüfen. Er wär der letzte gewesen.

01:40 Uhr
Dann, 1,5 Stunden später, dürfen wir endlich weiter fahren.
Das sarkastische „Das hat jetzt aber lang gedauert“ vom Busfahrer wird von den Mitfahrern zustimmend beklatscht.

Der Typ neben mir ist Polizist, bei der Kripo. Er unterhält sich mit dem jungen Typen, der den Scherz mit dem „Massenmörder“ wohl lieber nicht gemacht hätte. Es stellt sich raus, dass er mal psychedelische Pilze angebaut hat und von seinen Freunden verpfiffen wurde. Ist aber schon 4 Jahre her. Er hat seine Sozialstunden gemacht und die Strafe gezahlt. Darüber kann unser Polizist dann nur lachen. Das wegen so etwas so ein Aufstand gemacht wird. Man hätte schon die Prüfung der Ausweise viel schneller machen können, dafür gibt es Geräte, und die lange Befragung wäre auch mehr Schikane gewesen. Er empfiehlt ihm sich einen Anwalt zu nehmen und diesen Vorfall aus seinen Akten streichen zu lassen, sonst wird er bei jeder Kontrolle rausgezogen.

Ich versuche wieder zu schlafen. Die beiden reden weiter. Kann ich ja verstehen, war aufregend genug. Kurz vor 3 will ich sie dann bitten leise zu sein, aber da meinen sie schon von sich aus, dass sie jetzt die anderen wieder in Ruhe lassen.

In Nürnberg sind wir schon wieder rausgefahren, allerdings wegen Fahrerwechsel. Kein Wunder! Die doofe Polizeikontrolle hat ja alles durcheinander gebracht. Und der Fahrtenschreiber schreibt den Wechsel vor. (Keine Ahnung, ob das immer so ist. Normalerweise schlafe ich ja 😉 )

04:15 Uhr
Dann nächster Stopp in Müncheberg. Hier tauscht das Fahrer-Team ganz.
Als unsere neuer Fahrer die Durchsage macht: „So, mit 3 Stunden Verspätung geht’s jetzt weiter“ finde ich das nicht lustig!!! Es sind weiterhin nur 1,5 Stunden und irgendwie sind wir alle zu genervt um darüber zu lachen.

Ich kann nicht wirklich schlafen. Es ist unbequem und ich werde dauernd wach.

05:45 Uhr
Gegen viertel vor 6 bin ich auch mal wieder wach. Ohjeee, ich sehe vor uns viele rote Bremslichter und – Mist! – Warnblinkanlagen. Nicht das auch noch. STAU!
Da ich keine Ahnung habe, wo wir sein könnten, check ich meine KartenApp.
Wir sind kurz hinter dem Kreuz Rippachtal.
Der Bus fährt langsam in den Stau und dann geht nix mehr. Wir stehen und es bewegt sich auch nix.
Hier, kurz vor Leipzig.

Ich bin eh wach also geben ich „Staumeldungen“ und „A9“ mal bei Google ein. … Und bekomme einen Schreck! … Komplette Sperrung der Autobahn A9 zwischen Kreuz Rippachtal und Bad Dürrenberg.
Es wird empfohlen Kreuz Rippachtal abzufahren und der Umleitung zu folgen. Und wir sind schon daran vorbei.
Die Meldung ist 10 Minuten alt.
Toll, so ne Sperrung kann mal dauern. Hab das mal auf der A3 gehabt. Da stand ich mit meiner Schwester nachts 2 Stunden auf der Autobahn.
10 weitere Minuten später ist auch die Gegenfahrbahn gesperrt, was irgendwie beunruhigend ist.

Wär die Polizei nur ne halbe Stunde schneller gewesen, hätten wir’s noch vor dem Unfall geschafft.
Aber jetzt geht das ganze erst richtig los. Ab hier hat es Filmcharakter!

07:10 Uhr
Die Nachrichten im Internet sind gleichbleibend.
Nach einer Stunde Stillstand meldet sich der Busfahrer:

Also, wir haben jetzt Informationen bekommen. Da vorne ist ein LKW durch die Leitplanke gefahren. Das Dumme ist, der hatte Farbe, Sprühdosen und radioaktives Material geladen. Die Autobahn kann erst heute nachmittag geräumt werden! Es kommt aber noch besser. Die Umleitung hätte uns nix gebracht, denn da ist ein Großbrand!“

Das ist einer der Momente, wo es mir komplett die Sprache verschlägt!

Heute NACHMITTAG erst??? Es ist kurz nach sieben??? Vollkommene Fassungslosigkeit im Bus.
Der Polizist neben mir hat eigentlich eine sehr wichtige und große Gerichtsverhandlung um 11 Uhr in Berlin. Er hatte den Bus gewählt, weil der so schön früh in Berlin ist, er dadurch Puffer hat, selbst wenn es Verspätung gibt und weil das Landgericht in der Nähe vom ZOB ist.

Es sind mittlerweile mehrere Polizeiwagen, Krankenwagen und andere Autos mit Blaulicht an uns vorbei gefahren.

Der Typ hinter mir ist am rumtelefonieren. Er hat gesehen, dass nicht weit von uns eine Autobahnbrücke ist und versucht einen Taxibus zu organisieren, der uns dort aufliest. Er fragt rum, wer Interesse daran hätte. Wären einige. Ich bin mir nicht sicher, aber irgendwie hört sich das gut an. Und wir sind ja nicht weit von Leipzig entfernt.

Er geht runter und telefoniert mit MeinFernbus. Es wird hitzig, denn er möchte die Fahrt abbrechen und den Bus verlassen, auf der Autobahn, und das ist rechtlich nicht so einfach. Schließlich lässt sich die Zentrale darauf ein, dass wenn jeder unterschreibt, dass er auf eigene Verantwortung den Bus verlässt, wir gehen dürften.

07:40 Uhr
Wenigstens lässt uns der Busfahrer dieses Mal aussteigen.

Draußen treffe ich drei Mädels aus der Schweiz. Die eine ist dort bei der Feuerwehr und die schüttelt nur den Kopf. Sie meint in der Schweiz wäre bei einem solchen Gefahrengut-Unfall schon längst die Feuerwehr da und hätte die Leitplanken aufgeschnitten, um die Leute von der Autobahn zu evakuieren. Klingt SEHR logisch.
Vor allem, weil die Unfallstelle nur ca. nen Kilometer vor uns ist. Ist kein schönes Gefühl.

Die Organisierung des Taxis scheint nicht so einfach. Mittlerweile will er einen Bus organisieren, da sich mehrere Leute melden.

Die Busfahrer tun mir leid, sie werden sichtlich nervös, da sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen.
Auch sie telefonieren dauernd mit der Zentrale, bekommen aber keine Infos, man will sich drum kümmern.

Neuster Stand:
Unsere Situation ist gleichbleibend, da gibt es keine neuen Infos.
Das Gebiet wurde aber wohl gesperrt.
Auf der Umleitung gab es nicht einen Brand, sondern einen Unfall mit einem LKW, 5 PKW und mehreren Toten.
In Leipzig brennt ein Fabrikgelände.
Und alle Hauptstraßen um Leipzig sind zu.

Bei all der Dramatik und Ernsthaftigkeit der Situation ist jetzt aber ein Punkt erreicht, wo man nur noch lachen kann.
Der Polizist schlägt Morgengymnastik zur allgemeinen Erheiterung vor.

Ich finde, wenn jetzt noch Aliens landen würde, würde mich das auch nicht verblüffen. Die anderen lachen.
Diese Situation hat etwas derart groteskes, absurdes.

Durch all seine Telefonate weiß ich mittlerweile, dass der Typ hinter mir – in seinem chiquen FC Bayern Trainingsanzug – Emmerich heißt. Einen passenderen Namen gibt es ja wohl kaum.

Meinen 10:45 Uhr Termin sage ich schon mal ab. Das schaff ich auf keinen Fall mehr.

Die Fahrer versuchen alles, um uns davon abzuhalten die Reise abzubrechen. Sollte der bestellte Bus nicht kommen, werden sie uns nicht mehr mitnehmen. Und noch ist unklar, ob sie uns die Koffer aushändigen. MeinFernbus schickt SMS, dass es rechtlich nicht gestattet ist auf der Autobahn auszusteigen und dass wir den Anweisungen der Busfahrer folgen sollen. Die haben auch schon der Polizei Bescheid gegeben, dass Leute auf der Autobahn laufen wollen. Ausserdem kostet so ein Bus weit über 600 €

08:00 Uhr
Ein Busunternehmen aus dem angrenzenden Ort wird einen Bus zur Brücke schicken. Herr Emmerich gibt die genauen Koordinaten durch. Dann klärt er noch mal ab, wie viele mit wollen und ob ein 2. Bus gebraucht wird. Bleibt aber bei einem. Kostenfaktor: 6,- € pro Person. 😀 Mittlerweile ist auch klar, dass wir unsere Koffer bekommen. Wir müssen eben nur unterschreiben. Ich bin mir ein bisschen unsicher, ob ich das machen soll.
Aber weder vom Unfall noch von MeinFernbus gibt es irgendeine Info.
Der Polizist entscheidet sich auch den selbstorganisierten Bus zu nehmen. Das ist für mich der ausschlaggebende Punkt. Ich hole mein Handgepäck, unterschreibe und will meinen Koffer holen.
Das gestaltet sich etwas schwieriger die Koffer der Leute rauszufischen, die gehen wollen. Es sind 35 von ca 80.
Aber zum Glück ist mein Liebe-Koffer ja so einzigartig, dass er schnell gefunden wird.

08:25 Uhr
IMG_0412Und dann ziehen wir los, 35 Leute mit Sack und Pack, morgens auf dem Seitenstreifen der Autobahn.
Circa 800 Meter sind es bis zur Brücke. In entgegengesetzte Fahrtrichtung.
Die Gesichter der LKW Fahrer sind köstlich. Die meisten sind ziemlich überrascht. Sieht man ja auch nicht alle Tage so ne Karawane.

Ein romantischer Morgenspaziergang geht anders, aber irgendwie hat es was.
Das einzige, was mir ein bisschen Sorgen macht, ist die Brücke. Von weitem sehe ich, dass die Böschung ziemlich hoch ist und viel Gestrüpp und Bäume da stehen.

Unser Polizist geht voran und dann sehe ich, dass er sich scheinbar auskennt. Denn an solchen Brücken gibt es immer Treppen nach oben. Ich bekomme Hilfe von meinen lieben Mitreisenden, die mir meinen Koffer über die Leitplanke heben und dann gleich bis nach oben tragen. Very gentleman like! Als ich oben ankomme, sehe ich die letzten in unserer Karawane noch unten.

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Jetzt ist es 08:43 Uhr, wir stehen mitten in der Pampa auf einer Autobahnbrücke und warten auf einen Bus. Die meisten sind nur noch am Lachen und die Atmosphäre ist sehr heiter.

Ob der bestellte Bus wirklich kommt?
Es ist schon echt eine abgefahrene Situation.
Herr Emmerich telefoniert nochmal.

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Der Bus sollte jeden Moment kommen.
Und dann, 10 Minuten später, ist er wirklich da. Wie ein Schulbus sieht er aus und wir freuen uns mindestens genauso wie Kinder vor einem Ferienausflug. Keine Ahnung, was sich der Fahrer denkt, aber schnell werden die Koffer verladen und alle klettern in den Bus. Es wird geschnattert wie auf einem Schulausflug, aber alle sind erleichtert.

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Die Straße auf der wir dann fahren, kann kaum als Straße bezeichnet werden, das ist mehr ein Schotterweg. Und eng ist es auch. Als uns ein Gütertaxi (LKW) entgegenkommt wird es knapp, aber es klappt.

Voraussichtliche Fahrzeit zum Leipziger Hbf beträgt eine Stunde. Mein Navi sagt allerdings nur 30 Minuten.
Das bedeutet wir kommen irgendwann zwischen 9:20 und 9:50 am Hbf Leipzig an. Um 9:51 würde ein ICE nach Berlin fahren, das wäre grandios, dann wären wir 11:04 da, für mich wär alles entspannt und unser Polizist käme noch zu seiner Verhandlung.

War ne echt nette Busfahrt und ein bisschen Leipzig-Sightseeing haben wir auch bekommen.
Die Uni in Leipzig sieht toll aus!!!

Kurz nach halb waren wir dann wirklich da.

Marcus Emmerich ist mein Held des Tages! Jemand der so grandios gleich Initiative ergreift, für jeden der will eine Lösung bietet und das ganze auch noch organisiert: RESPEKT!!!

Hier trennen sich allerdings unsere Wege:
Der Held zieht gen Magdeburg, die meisten anderen wollen wieder auf den Fernbus umsteigen, aber ich werde ICE fahren. Für heute habe ich genug von Bussen. Der Herr von der Kripo kommt mit mir, Wolfgang heißt er.

Wir haben gemütlich Zeit zum Gleis zu laufen. Laut DB App ist der Zug auch pünktlich. 🙂

Im Zug treffen wir doch noch 5 weitere Gefährten dieses Abenteuers.
Wolfgang und ich stellen nach sehr kurzer Zeit fest, dass wir gar nicht soweit von einander entfernt wohnen. Er kommt aus Seeshaupt, seine Frau arbeitet in Tutzing und wir haben beide eine ganze Menge gemeinsamer Bekannter. Die Welt ist doch klein. Auf jeden Fall wird so die Fahrt nach Berlin wirklich kurzweilig und interessant.

Aber hey, Mr. Murphy! Das was die bisher abgefahrendste Reise!!! Und etwas über 3 Stunden Verspätung sind für dieses Abenteuer echt wenig.

Artikel aus der Mitteldeutschen Zeitung zum Vorfall

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